- Marajó und Santarém: Ihre Keramik
- Marajó und Santarém: Ihre KeramikBis in die jüngere Vergangenheit war das Gebiet des tropischen Regenwalds Amazoniens ein weißer Fleck auf der archäologischen Landkarte. Heute aber weiß man um die Vielfalt kultureller Entwicklungsformen und Traditionen des tropischen Tieflands in den Jahrhunderten vor der europäischen Eroberung. Zu den interessantesten dieser Kulturen zählen jene von Marajó und Santarém, die beide am Amazonas beheimatet waren. Die Marajó-Kultur hatte bereits rund 1000 Jahre vor Ankunft der Europäer ihr höchstes Kulturniveau erreicht. Auf der Insel Marajó im Mündungsdelta des Amazonas trat zwischen 1500 und 1000 v. Chr. erstmals Keramik auf. Diese entwickelte durch verschiedene Dekorelemente - in Felder gefasste Schraffuren und Ränder mit Ritzung - eine für ganz Amazonien entwickelte Phasenabfolge. Ab 400 n. Chr. trat hier die komplexe Marajoara-Kultur mit polychromer Keramik in Erscheinung, wie sie auch bei anderen zeitgleichen amerikanischen Kulturen zu finden ist.Von dieser Kultur stammt auch eine große Anzahl von künstlich aufgeschütteten Hügeln, manche bis zu 20 m hoch und annähernd 200 m lang. Sie dienten, zum Schutz vor den periodisch auftretenden Überschwemmungen, als Plattform für Wohn- und Bestattungsplätze. Die großen Langhäuser, in denen wahrscheinlich mehrere Familien wohnten, waren auf den Hügeln um einen gemeinsamen Platz errichtet. Ein ausgewogenes System von intensiver Sammelwirtschaft (Palmfrüchte), Jagd und Fischerei sowie einer - in ihrer Intensität noch nicht genau fixierten - Domestikation von Mais und Wildreis bildete die wirtschaftliche Grundlage.Alle Gräber beinhalten mit Deckeln versehene, bis zu 1,5 m hohe Tonurnen, in denen der Leichnam in Hockerstellung beigesetzt wurde. Kleinere Urnen mit zerbrochenen und rot bemalten Knochen weisen auf sekundäre Bestattung hin, das heißt auf eine Bestattung von Leichenteilen, die bei einer vorangegangenen Bestattung übrig geblieben sind. Diese Urnen zählen zu den großartigsten Schöpfungen der Keramik aus dem Tiefland Südamerikas; meist zeigen sie schwarze beziehungsweise braune und rote Bemalung auf weißem Grund mit zusätzlichen, plastisch modellierten Verzierungen, deren Gesamtkomposition eine menschliche Figur ergibt. Andere bemalte Urnen wiederum sind mit Ritzdekor und ausgekratzten Mustern versehen. Als Grabbeigaben fand man weitere außergewöhnliche und vielfältige Keramikprodukte wie Schalen, Töpfe, Schüsseln, ähnlich verziert wie die menschen- oder tiergestaltig gearbeiteten Urnen. Schemel, »Tangas« (= Schamschürzchen), Ohrpflöcke, Spinnwirtel und menschliche Figuren erweitern den Formenschatz der Marajoara-Keramik.Weit weniger als über die Marajoara-Kultur ist über die Urheber und die zeitliche Einordnung der Keramik von Santarém bekannt. Die meisten Gefäße und Figuren dieser Kultur scheinen zwischen 1000 und 1500 n. Chr. entstanden zu sein; viele andere Tongegenstände, wie etwa Pfeifenköpfe, aber weisen bereits auf einen europäischen Einfluss hin. Demnach dürfte die Kultur von Santarém noch zu Beginn der Kolonialzeit lebendig gewesen sein. Sie ist benannt nach dem Hauptfundplatz ihrer typischen Keramik, Santarém, an der Mündung des Río Tapajós in den Amazonas in Brasilien. Ähnlich wie auf der Insel Marajó lagen auch hier die zahlreichen Ansiedlungen auf erhöhten, hier jedoch nicht künstlich angelegten Plätzen; auch die ökonomische Grundlage — Bodenbau mit intensiver Sammelwirtschaft — entsprach jener von Marajó.Die Keramik von Santarém unterscheidet sich aber von den Marajoara-Tonwaren durch andere Formen des Dekors: durch ihre Ritzung und Punktierung und insbesondere durch ihre üppige, oft »barock« anmutenden, modellierten Applizierungen. Diese sind meist auf vasen- und schüsselartigen Gefäßen mit einfachem Fuß oder mit einer Basis in Form von Karyatiden (weiblichen Stützfiguren) angebracht, wobei der Gefäßkörper selbst die Gestalt eines Tieres annehmen kann. Durch die noch zusätzlich applizierten, jedoch immer frei modellierten Tierfiguren wirken die Tongefäße von Santarém bisweilen überladen. Zu den häufigsten plastischen Tierfiguren zählen Krokodile, Affen, Fledermäuse sowie die Harpyie (ein adlerartiger Greifvogel) und der Königsgeier. Schlangen, Eulen und Frösche sind oft durch eingeritzte Verzierungen dargestellt. Besonders bemerkenswert unter den Applizierungen sind die figural gestalteten Mischwesen zwischen Mensch und Tier, die sogar zwei jeweils einander entsprechende Köpfe besitzen. Neben den Gefäßen verdienen noch die menschengestaltigen Figuren Erwähnung, unter denen nackte Frauengestalten in stehender, sitzender oder hockender Haltung überwiegen und die vielleicht mit Fruchtbarkeitskulten in Verbindung standen.Weitaus seltener als die Tierdarstellungen in Ton sind die »Muiraquitãs« aus Jadeit oder Nephrit, die der Santarém-Kultur zugeschrieben werden. Dies sind verschiedene Gegenstände wie Lippenpflöcke oder einfache Röhrenperlen und auch auf die Tierfiguren, vor allem Vögel und Frösche, die als Anhänger dienten.Dr. Peter KannAlcina Franch, José: Die Kunst des alten Amerika. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 21982.Lavallée, Danièle und Lumbrerars, Luis Guillermo: Die Andenvölker. Von den frühen Kulturen bis zu den Inka. Aus dem Französischen und Spanischen. München 1986.
Universal-Lexikon. 2012.